Forschungskolloquium Gebrochene Traditionen?: Prof. Dr. Ulrich Johannes Schneider (Leipzig): Die Bibliothek als Paradies und wie man daraus vertrieben werden kann (Gastvortrag)
Der englische Spionageschriftsteller John le Carré empfahl
1995 einem Freund in einer persönlichen Krise die Herzog
August Bibliothek in Wolfenbüttel als „Ort, der dem Himmel
am nächsten kommt“. Ähnlich enthusiastisch äußerte sich be-
reits der italienische Flüchtling Giacomo Casanova im 18.
Jahrhundert, auch er in Wolfenbüttel. Der Berliner Intellektu-
elle Walter Benjamin vertraute 1940 seine Manuskripte der
französischen Nationalbibliothek an, bevor er vor den Nazis
weiter floh – bis in den Tod. Bibliotheken können Zufluchtsorte
für Menschen und Manuskripte sein, Paradiese des unbehel-
ligten Lebens, Schutzräume vor Verfolgung.
In die Geschichte der modernen Bibliotheken ist seit dem spä-
ten 19. Jahrhundert der Wille eingeschrieben, sie allgemein
zu öffnen und sie als Orte der Lektüre und der Arbeit am Wis-
sen zu qualifizieren. „Free to all“ steht über dem Eingang der
Public Library in Boston (Bau von 1895) und drückt ein Ange-
bot aus, das gut gemeint, tatsächlich aber zu allen Zeiten ein-
geschränkt war: für Minderheiten, Frauen und Kinder gab es
explizite Zugangsbeschränkungen; autoritäre Regime setzten
immer wieder umfassendere Diskriminierungen auch bei Bib-
liotheken durch. Die soziale Lage ärmerer Bevölkerungs-
schichten verhindert auch heute oft genug den Zugang zu
prinzipiell offenen Bildungsangeboten.
In seinem aktuellen Forschungsprojekt zur Kulturgeschichte
moderner Bibliotheken setzt sich Ulrich Johannes Schneider
mit der Nutzung von Bibliotheken in den letzten 150 Jahren
auseinander. Im Vortrag stellt er sein methodisches Vorgehen
zur Diskussion, Bibliotheken als soziale Einrichtungen zu re-
konstruieren.
Zeit & Ort
20.06.2025 | 12:15 - 13:45
Freie Universität Berlin
Fabeckstr. 23-25 (Holzlaube), Raum 0.2051
14195 Berlin