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Struktur der Forschungsgruppe

Die begriffliche Basis der Forschungsgruppe besteht aus drei Schwerpunkten:  

1. Unterscheidung zwischen ‚Bild‘ und ‚Idol‘

2. Interpretation des Zweiten Gebotes

3. Herleitung ästhetischer Prinzipien    

 

1. Bild ≠ Idol 

Aufgrund ausgewählter Stellen ‚aus den Quellen des Judentums‘ – um mit Hermann Cohen zu sprechen – ist es möglich, die These zu vertreten, der Begriff ‚Idolatrie‘ sei nicht-essentialistisch zu deklinieren. ‚Nicht-essentialistisch‘ bedeutet in diesem Kontext, dass es bei Idolatrie nicht so sehr um das Objekt der Verehrung geht, sondern eher um die Verehrung selbst. Nichts ist wesentlich ein Idol, aber alles kann zum Idol werden. Ein Idol entsteht, wenn etwas als Verehrungsobjekt angesehen wird, wenn es zum Objekt einer götzendienerischen Praxis wird. Man kann daher nicht mehr (essentialistisch) fragen, was ein Idol ist. Die angemessenste Frage ist vielmehr, wann etwas zum Idol wird.

Auf eine nicht-essentialistische Auffassung der Idolatrie weisen zahlreiche Stellen des Mischnatraktates Avoda Zara hin. Um nur ein Beispiel zu nennen, sagt Rabban Gamliel: 

Was man als Gottheit behandelt, das ist verboten, was man aber nicht als Gottheit behandelt, das ist erlaubt (TB: Avoda Zara, 44b). 

Damit von Idolatrie die Rede sein kann, ist also die Frage ausschlaggebend, wie etwas (gleichgültig was!) angesehen und behandelt wird. 

Die Bedeutungsfelder der Begriffe ‚Bild‘ und ‚Idol‘ mögen sich dann auch teilweise überschneiden, sie decken sich aber nicht gänzlich. Es ist zwar offensichtlich, dass einige Bilder als Idole verehrt werden. Es kann aber auch Idole geben, die keine Bilder sind, und, umgekehrt, Bilder, die keine Idole sind. 

Diese sind für das Forschungsthema unserer Gruppe besonders relevant, denn mit der Möglichkeit nicht-idolatrischer Bilder ist auch die Möglichkeit des künstlerischen Schaffens im Judentum gewährleistet. Und das ist natürlich die Voraussetzung für die Entwicklung einer Theorie der Kunst.  

 

2. Vom Verbot zum Gebot

Der zweite Punkt geht aus dem ersten hervor und entwickelt ihn weiter zu dem, was man als ‚positive Umkehrung‘ bezeichnen könnte. Nicht nur ist das Zweite Gebot kein Hindernis für die Entwicklung einer jüdischen visuellen Kultur, es ist sogar der Motor einer solchen Kultur. Da das Zweite Gebot keine anikonische oder ikonoklastische, sondern eher eine idoloklastische Bedeutung hat, lässt es sich als Aufforderung zur aktiven Idolzerstörung interpretieren.

Dieser Perspektivenwechsel vom negativen zum positiven Gebot; vom (angeblichen) Verbot, Bilder zu machen, zum Gebot, anti-idolatrische Bilder zu schaffen, liegt einer Ansicht zugrunde, die sich seit den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts etabliert hat. Melissa Raphael, eine der Hauptvertreter dieser Position, fasst sie prägnant zusammen, indem sie schreibt: 

 A number of scholars have proposed that the second commandment has not so much prevented figurative visual art, as promoted a distinctive set of styles and techniques. [These are] characteristically Jewish ways of making counter-idolatrous images or anti-images […]. In other words, the second commandment, as a prohibition of idolatry, is the foundational possibility of Jewish art. 

Und – als Hinzufügung – wenn jüdische Kunst möglich ist, dann ist auch eine jüdischeTheorie der Kunst möglich – d. h. eine Theorie der Kunst, die mit den philosophisch-theologischen Prinzipien des Judentums im Einklang steht. 

 

3. Ästhetische Prinzipien

Melissa Raphael spricht von „Jewish ways of making counter-idolatrous images“. Diesen künstlerischen Praktiken lassen sich ästhetische Prinzipien entnehmen. 

Hier ist ein Überblick:

AUTOR

WERK

ÄSTHETISCHE PRINZIPIEN

STEVEN SCHWARZSCHILD

The Legal Foundation of Jewish Aesthetics (1975)

Abstraction / Distortion

MARK TAYLOR 

Disfiguring: Art, Architecture, Religion (1992) 

Removal / Distortion / Laceration

LIONEL KOCHAN 

The Unfinished and the Idol: Toward a Theory of Jewish Aesthetics (1997)

Incompleteness 

ANTHONY JULIUS 

Idolizing Pictures. Idolatry, Iconoclasm and Jewish Art (2000)

Sublime / Irony 

MELISSA RAPHAEL

The Creation of Beauty by its Destruction (2016) 

Destruction

 

Alle Prinzipien (im dritten Teil der Tabelle) weisen idoloklastische Züge auf, die auf unterschiedliche Weise die Idolisierung des Bildes bekämpfen. 

Begriffe wie ‚Abstraktion‘ und ‚Erhabenes‘stehen z. B. für eine Überschreitung der sinnlichen, materiellen Dimension, d. h. der Dimension, in welcher Bilder zu Idolen zu werden drohen. 

Removaldistortionlaceration oder sogar destruction des Bildes heben die Unzulänglichkeit und Zerbrechlichkeit seiner endlichen Natur hervor. Etwas Zerbrechliches kann offenbar nicht als Idol, als göttlich, gesehen werden. 

Das Prinzip der ‚Unvollständigkeit‘ (incompleteness), sei sie im Bild erkannt oder absichtlich verursacht, wirkt Starrheit und Abgeschlossenheit entgegen, die als Kennzeichen einer verehrenden Haltung gelten. Lionel Kochan, der das Thema ausführlich behandelt hat, schreibt:  

[…] in whatever way incompleteness [is] achieved, the effect is to […] constitute the antithesis to the closed, totalizing, and reified world of the idolater.

Last but not least: ‚Ironie‘.Dadurch wird die Autorität verhöhnt,die einem Bild zugeschrieben werden muss, damit es sich in ein Idol verwandelt.

An dieser Stelle lohnt es sich, noch einen Satz von Melissa Raphael zusammenfassend zu zitieren:  

The second commandment mandates the breaking of idolatrous images – whether by an abstraction of their content or damaging, erasing, subverting, or laughing at them.