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Jüdisch-jüdische Begegnungen im Osmanischen Europa

Im Mittelpunkt der Arbeit der Forschungsgruppe steht das Problem von religiöser Einheit und
kultureller Differenz innerhalb des Judentums: Wie werden herkunftsspezifische Unterschiede
innerhalb der Religionsgemeinschaft verhandelt? Wann werden entsprechende Differenzen
bedeutsam, und wie geht man mit ihnen um? Auf welche Weise imaginieren und praktizieren
die Zeitgenossen aber umgekehrt immer wieder auch die Einheit jüdischer Gemeinschaft?

Die Verhältnisse im Osmanischen Reich und weiteren Mittelmeerraum seit Ende des Mittelalters
sind besonders geeignet, um jüdisches Leben aus einer entsprechenden Binnenperspektive zu analysieren.
Denn zwar hatte es Begegnungen einzelner Juden mit anderen Juden, also Glaubensgenossen
unterschiedlicher Herkunft und kultureller Prägung, immer schon gegeben.
Doch erst im Zuge der großen Vertreibungen aus Mittel- und
Westeuropa, die ihren Höhepunkt in den Ausweisungen von der Iberischen Halbinsel Ende
des 15. Jahrhunderts fanden, brachen die mittelalterlichen Siedlungsstrukturen auf, und
Hunderte und Tausende von Juden waren gezwungen, ihre Heimat zu verlassen. Eine Vielzahl
von ihnen fand Aufnahme im Imperium der Osmanen, wo die Migranten nun nicht mehr –
wie in früheren Zeiten – in den griechisch- und arabischsprachigen Gemeinden ihres neuen
Wohnorts aufgingen. Stattdessen war es den Neuankömmlingen in ihrer großen Zahl jetzt
möglich, ihre Traditionen weiter zu pflegen, sich in eigenen Gemeinden
zusammenzuschließen und innerhalb herkunftsspezifischer Diasporen zu agieren. Jüdisch-
jüdische Begegnungen werden auf diese Weise in der longue durée beobachtbar und lassen
sich in unterschiedlichen Konstellationen – zwischen Individuen und Gruppen, aber auch
vermittelt über die Auseinandersetzung über unterschiedliche Traditionen – erfassen.


Mit der Bezugnahme auf das Konzept des ,Osmanischen Europa‘ wird an Perspektiven der
jüngeren Frühneuzeitforschung angeknüpft, die gerade auch für die jüdische Geschichte und
über das 18. Jahrhundert hinaus Einsichten eröffnen und mit überkommenen
historiographischen Gepflogenheiten brechen: Anstatt das Osmanische Reich als isolierten
Herrschaftsraum und jüdisches Leben in seinen Grenzen als separate Einheit zu betrachten,
gilt es, Forschungen zum Imperium und zu Westeuropa zusammenzuführen und
gesellschaftliche und kulturelle Verflechtungen zu untersuchen. Dies betrifft unter anderem
die Infragestellung einer strengen Teilung in ost- und westsephardische Diasporen sowie die
Historisierung dichotomer aschkenasischer und sephardischer Identitätskonstruktionen.


Ziel der Forschungsgruppe ist es, die in der Forschung allzu oft vernachlässigten Fragen
intrareligiöser Differenzierung und Zugehörigkeitsverhandlung in den Fokus zu rücken und
jüdisches Leben unter osmanischer beziehungsweise muslimischer Herrschaft verstärkt in die
entsprechenden Debatten der Geschichtswissenschaft und der Jüdischen Studien
einzubeziehen. Unsere individuellen Teilprojekte sind dabei über die gemeinsame inhaltliche
und methodisch-konzeptionelle Diskussion ebenso verbunden wie über den Austausch über
die regionsspezifische Historiographie und Überlieferungslage. Die jeweils unterschiedlichen
zeitlichen Zuschnitte der Projekte ermöglichen den epochenübergreifenden Vergleich.
So konzentriert sich das Projekt von Dr. Susanne Härtel auf das kulinarische Feld
als Kristallisationspunkt jüdischer Zugehörigkeiten im Osmanischen Europa des
16. bis 18. Jahrhunderts. Jonathan Hirsch widmet sich in seinem Dissertationsvorhaben der in
starkem Maße durch Migration geprägten jüdischen Gemeinschaft im spätosmanischen Ägypten.
Und Sarah Pohl vergleicht in ihrer Doktorarbeit die Familienmodelle unterschiedlicher jüdischer
Gruppen im osmanischen Palästina des 19. Jahrhunderts. Das Spektrum weiterer Teilprojekte
der Gruppe assoziierter Forscher und Forscherinnen reicht von der Behandlung von Fragen
jüdischer Autonomie im Venedig des 16. und 17. Jahrhunderts bis hin zu Analysen
gegenwärtiger türkisch-sephardischer Migration nach Israel.